Canon EOS 6D mit Canon EF 17-40 L USM @ 17mm, 1/80s bei f/11, ISO 800, RAW
Dieser Sonnenaufgang in den Ötztaler Alpen hat mich daran erinnert, dass Fotografie viel mit Psyche zu tun hat. Im Herbst 2010 habe ich meinen Blog über Fotografie mit einem Bild der Psyche begonnen und damit unbewusst einen Volltreffer gelandet. Doch der Reihe nach: Was hat das obige Bild mit Psyche zu tun?
Schroffe Felsen, Schneefelder, tiefe Schatten und ein wolkenverhangener Himmel bilden einen spannungsreichen Kontrast mit den warmen Lichtstrahlen, die aus der sternförmig abgebildeten Sonne durch einen schmalen Spalt in der Wolkendecke auf die Landschaft fallen. Ich habe dem Bild den Titel „Silberstreif“ gegeben – es erinnert an den „Silberstreif am Horizont“, von dem man spricht, wenn in einer schwierigen Situation doch noch ein Grund zur Hoffnung besteht. Meine fotografischen Pläne für diesen Morgen sahen ursprünglich ganz anders aus. In meiner Phantasie hatte ich mir ausgemalt, wie der rötlich leuchtende Himmel vom stillen Spiegel eines klaren Bergsees reflektiert wird, umrahmt von einer schroffen Berg- und Felskulisse. Viele meiner Bilder entspringen einer solchen Phantasie, die mich inspiriert und mich antreibt. Dann beginnt die Arbeit der Umsetzung: Die Suche nach dem passenden Ort, das Berücksichtigen des Lichteinfalls, das Kalkulieren der Einflüsse von Wetter und Jahreszeit, die Touren- und Terminplanung und vieles mehr.
„Die einzig wahre Quelle der Kunst ist unser Herz, die Sprache eines reinen kindlichen Gemütes. Jedes echte Kunstwerk wird in geweihter Stunde empfangen und in glücklicher geboren, oft dem Künstler unbewusst aus innerem Drange des Herzens. Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“ – Caspar David Friedrich, Maler (1774-1848)
Wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die erhofften Bedingungen eintreten und meine sonstigen Verpflichtungen es zulassen, breche ich auf – das Abenteuer beginnt. Und letztlich weiß ich dabei trotz aller Planung nie, was mich erwartet und ob ich die ursprüngliche Bildidee tatsächlich umsetzen kann. So war es auch hier und alles kam anders als gedacht. Als ich nach zweitägiger Bergtour den Bergsee erreichte, sah alles ganz anders aus als in meiner Phantasie. Der See, der als Spiegel dienen sollte, was fast vollständig von Eis bedeckt. Das Wetter hatte sich ganz anders entwickelt – es gab viel zu viele Wolken. Ein kalter Wind kam auf. Der Ort wirkte fremd und unwirtlich und ich suchte nach objektiven Gründen, die Tour an dieser Stelle abzubrechen und statt des geplanten Biwaks den Abstieg anzutreten. Gut, dass ich nicht alleine war – denn mein Tourenbegleiter ließ sich von meinen Zweifeln nicht anstecken. Nach einer Tasse heißem Tee und einer warmen Mahlzeit sah die Welt wieder anders aus und wir schlugen das Biwak auf.
Canon EOS 6D mit Canon EF 17-40 L USM @ 17mm, 1/60s bei f/9, ISO 800, RAW
Als am nächsten Morgen der Wecker um 5 Uhr läutete, hatte sich immer noch nichts geändert. Von Sonnenlicht keine Spur, der Himmel war bedeckt und die Farben tot. Ich kroch trotzdem aus dem Biwaksack, machte ein paar dokumentarische Aufnahmen und legte mich wieder schlafen. Als ich kurz vor 6 Uhr wieder aufwachte, kam die Überraschung: der Gipfel über dem See leuchtete im rötlichen Morgenlicht. Und dann folgte eine halbe Stunde mit grandiosem Licht, die mir das Foto ganz oben auf dieser Seite beschert hat. Allein dafür schon hat sich das Aushalten und die dreitägige Bergtour gelohnt. Das Ergebnis war ganz anders, als geplant – und doch bin ich damit mehr als zufrieden und um eine Erfahrung reicher.
Canon EOS 6D mit Canon EF 17-40 L USM @ 17mm, 1/80 bei f/10, ISO 800, RAW
Wenn die Bedingungen vor Ort alle Pläne zunichte machen, muss man sich eben geduldig auf das einlassen, was sich bietet. Das Tor der Psyche ist in beide Richtungen durchlässig: Von innen nach außen und umgekehrt. Man muss es nur offen halten – und das ist manchmal gar nicht so einfach. In der Bergfotografie kommt zum Faktor Psyche noch die körperliche Seite hinzu: Wenn man erschöpft und müde ist, kann es schwer bis unmöglich sein, sich auf das Fotografieren zu konzentrieren, Licht, Farben und Formen aufmerksam wahrzunehmen und durch Ausreizen der gestalterischen Möglichkeiten gut umzusetzen.